2013/10/31

Europäer und der Orient »übers Mittelmeer gedrungen« – J. W. Goethes West-östlicher Divan (Neuauflage von 2012)

Letztes Jahr erschien im Insel-Verlag eine schön gestaltete Neuauflage des »West-östlichen Divan«. Gerade in unseren Zeiten lohnt es sich, in die Gedanken eines alten Meisters zu Liebenden und Trennung »wie Orient vom Okzident« (S. 78) hineinzuschauen.
In zwölf »Büchern« dichtet Goethe über Hafis, den von ihm bewunderten orientalischen Dichter, über Gott und die Welt. Ihm geht es um einen universalen Blick, so beginnt er das Gedicht »Talisman« im »Moganni Nameh – Buch des Sängers« (S. 12):

Gottes ist der Orient!
Gottes ist der Okzident!
Nord- und südliches Gelände
Ruht im Frieden seiner Hände.

Noch deutlicher wird seine ganzheitliche Perspektive in den Gedichten aus dem Nachlass, die in der Ausgabe ebenfalls enthalten sind. Zuvor folgen den zwölf »Büchern« allerdings umfangreiche Erklärungen von Goethe höchstselbst, die an die Seitenanzahl des Gedichtteils heranreichen. Die erst posthum veröffentlichten Gedichte hingegen umfassen nur ein Dutzend Seiten. Umso mehr wird Goethe hier explizit (S. 279):

Wer sich selbst und andere kennt
Wird auch hier erkennen:
Orient und Okzident
Sind nicht mehr zu trennen.
Wie ein feines Band durchzieht die Gedichte der Wunsch, Missverständnisse aus dem Weg zu räumen und Bezüge deutlich herauszustellen. Im »Hikmet Nameh – Buch der Sprüche« sind viele kurze Sentenzen versammelt. Der Dichter erklärt seinem Publikum, der Orient sei »übers Mittelmeer gedrungen«, nur wenn man Hafis kenne, könne man Calderon richtig einordnen (S. 60). Wer nicht weiß, wer oder was Calderon ist, muss nicht unbedingt bei einschlägigen Online-Enzyklopädien nachschauen, sondern findet in den Erläuterungen zu Goethes Texten am Ende des Bandes immerhin die Information, dass es sich um einen spanischen Dramatiker der Frühneuzeit handelt, dessen Stücken Goethe in Weimar neues Leben einzuhauchen versuchte (S. 315).
Klassiker in neuem Gewand – (c) Suhrkamp/Insel-Verlag (http://www.suhrkamp.de/buecher/west-oestlicher_divan-johann_wolfgang_goethe_36234.html)

Spannend ist es durch diese Anlage des Bandes, Goethes eigene Abhandlungen und die Erklärungen in Beziehung zu setzen. Zum Beispiel geht es in einem weiteren Gedicht aus dem Sprüche-Buch in einem sechszeiligen Gedicht um Quark, der mit Gewalt geschlagen Form annimmt (eine Form, die Europäer Pisé nennen) Der Meister selbst schreibt in den Erläuterungen zum gleichen Buch, orientalische Sprüche seinen besonders lakonisch. Für den Westler sei dieser Stil sehr herausfordernd, alte Sinnsprüche im Deutschen könnten allerdings Modell stehen (S. 204). Das Hin- und Herblättern bei diesen aufeinander bezogenen Teilen des Bandes (ganz am Ende stehen zusätzlich drei schöne Aufsätze von Hugo von Hofmannsthal, Oskar Loerke und Karl Krolow) ist etwas mühsam und auch ein knappes Register (der ersten Ausgaben, S. 272-274) lässt einen nicht alles zielgenau auffinden. Beim Suchen stößt man jedoch immer auf Überraschungen. Schließlich ist der Divan nicht nur aus west-östlicher Perspektive, sondern auch bei der Liebeslyrik eine wahre Fundgrube.