2012/10/07

Perspektiven auf ein dunkles Europa

Auf Empfehlung ist in diesem Blog-Beitrag von zwei Romanen des deutschen Autors Wolfram Fleischhauer die Rede, in denen in meinen Augen ein »dunkles Europa« eine Rolle spielt. Gut zu wissen, dass Fleischhauer (Jahrgang 1961) Erfahrung als Konferenzdolmetscher in Brüssel hat. Offensichtlich haben es ihm dabei vor allem Französisch und Englisch angetan. Der erste Roman, in dem Französisch gefragt ist, »Die Frau mit den Regenhänden« entführt einen in zwei Zeitebenen. Ort ist jeweils Paris, die »Stadt des Lichts«. Warum dann von einem »dunklen Europa« fabulieren?

Die erste Zeitebene führt kurz vor die Zeit des deutsch-französischen Krieges von 1870/71, die zweite in den Anfang der 1990er Jahre, eine Zeit in der sich die »Nachbarn am Rhein« (Hartmut Kaelble) neu in einer Welt »après-guerre-froide« zurechtfinden mussten. Mitreißend erzählt Fleischhauer, wie eine gerichtliche Ermittlung im 19.-Jahrhundert-Paris immer größere Kreise zieht – als Hauptstadt von Frankreich und als Ort der Weltausstellung erscheint die Stadt zunächst übermächtig glänzend. Doch es liegen bereits lange Schatten auf dem Zweiten Kaiserreich, am Ende zitiert der Autor die Kaiserin: »In keinem Land, so bemerkte sie, sei der Abstand zwischen Erhabenheit und Lächerlichkeit so gering.« (S. 480) Während diese Kriminalgeschichte um einen vermeintlich »alltäglichen« Kindesmord immer rasanter vorwärtsgeht, wird klar, dass sie eine Geschichte in der Geschichte ist. Anfang der 1990er Jahre begegnet ein deutscher Doktorand in einem Lesesaal einer rätselhaften Französin, die den Skandal im Schatten der Pariser Weltausstellung wie besessen recherchiert. Hier setzt Fleischhauer vor allem auf die Liebesgeschichte, deren Ausgang und ebenfalls dunkle Hintergründe hier nicht verraten werden sollen. Dennoch kommt die Vergangenheit wieder zum Vorschein, wenn eine Vertraute der Französin den Doktorarbeits-Geplagten direkt angeht: »›Warum studiert ein Deutscher französische Geschichte?‹« (S. 405)
 Eine gute Frage, die ich aus eigenen, ähnlichen intellektuellen Entwicklungslinien vielleicht noch um die Frage erweitern würde: Warum studiert ein Deutscher europäische Geschichte? Meine Antwort 2012, circa zwei Jahre vor einem runden Jahrestag eines Kristallisationspunktes des dunklen Europas, von dem die Rede ist: Weil es nicht ausreicht, die vermeintlich eigene Perspektive zu kennen.
Im zweiten Roman von Fleischhauer, »Schule der Lügen«, geht es wieder scheinbar um keinerlei europäische Katastrophen. Erneut steht ein Ort im Mittelpunkt, Berlin, wobei es mehr Nebenschauplätze gibt, einen Adelssitz bei Hamburg, das koloniale Indien, das Zentrum des britischen Weltreichs London (daher geht es sprachlich hier mehr um das Englische) … Dafür steht eine Zeitebene im Mittelpunkt, die Mitte der 1920er Jahre. Wiederum geht es mit nervenaufreibender Spannung um politische Machenschaften und Liebesverwicklungen, die sich hier mit einer deutschen Oberklasse-Familiengeschichte verbinden. Edgar Falckenbeck-von Rabov, Erbe eines Hamburgischen Industriellen, kommt den dunklen Flecken auf seinem bis dato glänzenden Familienstammbaums auf die Spur. Dabei sei nur am Rande ein wenig genealogische Rechthaberei erlaubt. Der von Edgar im Zuge seiner Recherchen skizzierte Stammbaum seiner beiden Familienzweige (S. 141) weist für die Nachkommen des verfehmten, nach England gegangenen Onkels zwei Söhne und eine Tochter auf, während zwei Töchter und ein Sohn (z. B. S. 126) richtig ist. Wichtiger ist aber auch hier der Hintergrund der Geschichte, den beispielsweise der ausgestoßene Onkel beiläufig auf den Punkt bringt, als er über den Bruch zwischen ihm und seinem Vater, dem Großindustriellen, spricht: »›[…] mein Vater war ebenso wie seine alldeutschen Freunde fest davon überzeugt, Deutschland und Österreich, das Germanenreich sozusagen, könnten es mit dem Rest der Welt aufnehmen. Nun ja, das Ergebnis kennen wir.‹« (S. 293)
Meiner Meinung nach ist das Ergebnis dieses dunklen Europas aus dem Blut von Millionen auch 2012, 98 Jahre nach »Deutschland und Österreich gegen den Rest der Welt« noch nicht abzusehen. Aber es ist notwendig, die Spuren dieser langen Geschichte nicht nur an den großen Jahrestagen im Auge zu behalten.

Wolfram Fleischhauer, Die Frau mit den Regenhänden, Taschenbuch Knaur, München 2001 [1999], 481 Seiten, 9,95 €.

Wolfram Fleischhauer, Schule der Lügen, Piper, München 2006, 523 Seiten, 22,90 € (unter dem Titel  »Die Inderin« im gleichen Verlag 2008 für 10,95 € auch als Taschenbuch erschienen).