2013/12/27

EU-Siegel und europäische Kampagnen


Das Bio-Siegel der EU ist zumindest gemessen an der Teilnahme an der Neugestaltung 2009 und der Abstimmung über das Gewinner-Design ein ganz guter Erfolg. Immerhin wurden mit 130.000 Stimmen deutlich mehr Stimmen abgegeben als etwa im Rahmen der Konsultationen zur Verringerung des Mülls durch Plastiktüten (15.500).
Genese des EU-Bio-Siegels: http://ec.europa.eu/agriculture/organic/eu-policy/logo_de
Auch im Handel läuft es einem recht häufig über den Weg und ist nicht nur auf Produkten von erfolgreichen hessischen Naturkaufmännern zu finden, sondern auch auf französischem Biowein und vielem mehr. Andere Bereiche sind da weniger mit europäischen Kampagnen gesegnet. Der Verein Fairtrade Labelling Organizations, dessen grün-blau-schwarzes Winke-Siegel man zum Beispiel aus Eine-Welt-Läden kennt, führt als nationale Fairtrade-Organisationen immerhin Folgendes auf:

  • Belgien: Max Havelaar Belgium
  • Dänemark: Fairtrade Mærket Danmark
  • Estland: Fairtrade Estonia
  • Finnland: Fairtrade Finland
  • Frankreich: Max Havelaar France
  • Deutschland: Fairtrade Deutschland (dahinter steht TransFair – Verein zur Förderung des Fairen Handels mit der »Dritten Welt« e.V.)
  • Irland: Fairtrade Mark Ireland
  • Italien: Fairtrade TransFair Italy
  • Lettland: Fairtrade Latvia
  • Litauen: Fairtrade Lithuania
  • Luxemburg: Fairtrade Lëtzebuerg
  • Niederlande: Stichting Max Havelaar Netherland
  • Norwegen: Fairtrade Max Havelaar Norway
  • Österreich: Fairtrade Austria
  • Portugal & Spanien: Fairtrade Ibérica
  • Schweden: Fairtrade Sweden
  • Schweiz: Fairtrade Max Havelaar Switzerland
  • Tschechische Republik: Fairtrade Czech Republic (als Marketing-Organisation gelistet)
  • Vereinigtes Königreich: The Fairtrade Foundation
Nichtsdestoweniger zeigt sich hier in meinen Augen eine Akzentuierung des eigenen, europäischen Wohlergehens (gesunde Bioprodukte müssen mit europäischer Gesetzgebung sichergestellt werden) gegenüber dem Wohlergehen der anderen, außereuropäischen Menschen, die Produkte herstellen/anbauen (faire Handelsbeziehungen und Nachhaltigkeit können von privaten Organisationen sichergestellt werden). Im nächsten Beitrag Anfang 2014 dazu mehr.

2013/11/30

Was sagt der Koalitionsvertrag 2013 zum europäischen Projekt?

Nun ist also alles paraphrasiert und ausbaldowert in Berlin. Eigentlich fast ein bisschen unfair, dass nun die Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands eine wichtige Entscheidung in Sachen europäisches Projekt treffen können. Nicht die Gesamtheit der deutschen Wählerinnen und Wähler, nicht die Genossinnen und Genossen in der ganzen Europäischen Union, nur die, die schon seit Urzeiten Mitglied in der alten Tante SPD sind oder die noch schnell in einem Ortsverein/in einer Abteilung untergekommen sind:
Beim Mitgliedervotum über den Koalitionsvertrag dürfen alle Mitglieder abstimmen, die bis zum 13. November 2013 in der Mitgliederverwaltung aufgenommen wurden. Über die Aufnahme entscheidet der Ortsverein.
  (http://www.spd.de/partei/Mitglied_werden/).

Wie sollen die zum Mitmachen und Mitentscheiden Aufgerufenen nun abstimmen? Es klingt natürlich gut, wenn sich die mögliche zukünftige Koalition am Ende des umfänglichen Koalitionsvertrags 2013 selbst ermutigt »ein geschlossenes Auftreten gegenüber den europäischen Partnern und Institutionen« an den Tag zu legen und dies von »der Bundeskanzlerin und dem Vizekanzler« höchstselbst abgestimmt wird. Zwar erfolgt die Verkündung der Verteilung der Posten nach den Beschlüssen von CDU, CSU und SPD, Frau Merkel und Herr Gabriel sind offensichtlich als Kanzlerin und Vize immerhin klar (Punkt 8 Koalitionsvertrag, Arbeitsweise der Koalition).
Unklar bleibt mir bei der europäischen Außenpolitik beispielsweise wie Folgendes funktioniert:
Die Nachbarländer an der südlichen und östlichen Küste des Mittelmeers sind von strategischer Bedeutung für Europa. Eine engere Anbindung dieser Staaten an die EU kann zu einer Stabilisierung der Region beitragen.
Bisher haben sich Deutschland und die Europäische Union insgesamt in dieser Frage nicht mit Ruhm bekleckert. Auch der kurz davor diskutierte Aspekt einer Mitgliedschaft der Türkei zeichnet sich nicht gerade durch Klartext aus. Wiederum davor schreibt sich die im Fall des Falles zweite Große Koalition nach 2000 ins Stammbuch, »die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit« müsse eine »Priorität europäischer Politik sein«. Bisher war in der Politik der Bundesregierung davon wenig zu spüren, wie sie überhaupt wenig bis gar keine europapolitischen Prioritäten zu haben schien. Vielleicht ein Grund für die SPD-Mitglieder, mit »Ja« zu stimmen (Punkt 6 Koalitionsvertrag, Starkes Europa).
Schwach ist der Vertrag in meinen Augen besonders beim Thema Europäische Union und Energiewende. Zwar ist es nicht so, dass im insgesamt ziemlich missratenen Abschnitt zum Thema »Die Energiewende zum Erfolg führen« keine Bezugspunkte zur europäischen Integration hergestellt werden. Aber Sätze wie: »Wir setzen uns auch auf europäischer Ebene für umfassende Transparenz in allen sicherheitsrelevanten Fragen ein.« oder: »Es ist mittelfristig ein Kapazitätsmechanismus zu entwickeln, unter dem Gesichtspunkt der Kosteneffizienz im Einklang mit europäischen Regelungen und unter Gewährleistung wettbewerblicher und technologieoffener Lösung.« klingen nicht gerade visionär (Punkt 1 Koalitionsvertrag, Wachstum, Innovation und Wohlstand).
Es wird eine schwierige Entscheidung für die werten deutschen Genossinnen und Genossen werden.
Die Software-Seite giga.de kam auf die Idee, den Text des Koalitionsvertrages in wordle.net, einem »Wortwolken-Generator« einzulesen. Alles in bester Ordnung, würde ich sagen: »Deutschland« ungefähr doppelt so groß wie »Europa« und »Europa« immer noch vor »EU« (wobei man ja gern »Europa« schreibt und die »EU« meint):
Wordle: Koalitionsvertrag 2013

2013/10/31

Europäer und der Orient »übers Mittelmeer gedrungen« – J. W. Goethes West-östlicher Divan (Neuauflage von 2012)

Letztes Jahr erschien im Insel-Verlag eine schön gestaltete Neuauflage des »West-östlichen Divan«. Gerade in unseren Zeiten lohnt es sich, in die Gedanken eines alten Meisters zu Liebenden und Trennung »wie Orient vom Okzident« (S. 78) hineinzuschauen.
In zwölf »Büchern« dichtet Goethe über Hafis, den von ihm bewunderten orientalischen Dichter, über Gott und die Welt. Ihm geht es um einen universalen Blick, so beginnt er das Gedicht »Talisman« im »Moganni Nameh – Buch des Sängers« (S. 12):

Gottes ist der Orient!
Gottes ist der Okzident!
Nord- und südliches Gelände
Ruht im Frieden seiner Hände.

Noch deutlicher wird seine ganzheitliche Perspektive in den Gedichten aus dem Nachlass, die in der Ausgabe ebenfalls enthalten sind. Zuvor folgen den zwölf »Büchern« allerdings umfangreiche Erklärungen von Goethe höchstselbst, die an die Seitenanzahl des Gedichtteils heranreichen. Die erst posthum veröffentlichten Gedichte hingegen umfassen nur ein Dutzend Seiten. Umso mehr wird Goethe hier explizit (S. 279):

Wer sich selbst und andere kennt
Wird auch hier erkennen:
Orient und Okzident
Sind nicht mehr zu trennen.
Wie ein feines Band durchzieht die Gedichte der Wunsch, Missverständnisse aus dem Weg zu räumen und Bezüge deutlich herauszustellen. Im »Hikmet Nameh – Buch der Sprüche« sind viele kurze Sentenzen versammelt. Der Dichter erklärt seinem Publikum, der Orient sei »übers Mittelmeer gedrungen«, nur wenn man Hafis kenne, könne man Calderon richtig einordnen (S. 60). Wer nicht weiß, wer oder was Calderon ist, muss nicht unbedingt bei einschlägigen Online-Enzyklopädien nachschauen, sondern findet in den Erläuterungen zu Goethes Texten am Ende des Bandes immerhin die Information, dass es sich um einen spanischen Dramatiker der Frühneuzeit handelt, dessen Stücken Goethe in Weimar neues Leben einzuhauchen versuchte (S. 315).
Klassiker in neuem Gewand – (c) Suhrkamp/Insel-Verlag (http://www.suhrkamp.de/buecher/west-oestlicher_divan-johann_wolfgang_goethe_36234.html)

Spannend ist es durch diese Anlage des Bandes, Goethes eigene Abhandlungen und die Erklärungen in Beziehung zu setzen. Zum Beispiel geht es in einem weiteren Gedicht aus dem Sprüche-Buch in einem sechszeiligen Gedicht um Quark, der mit Gewalt geschlagen Form annimmt (eine Form, die Europäer Pisé nennen) Der Meister selbst schreibt in den Erläuterungen zum gleichen Buch, orientalische Sprüche seinen besonders lakonisch. Für den Westler sei dieser Stil sehr herausfordernd, alte Sinnsprüche im Deutschen könnten allerdings Modell stehen (S. 204). Das Hin- und Herblättern bei diesen aufeinander bezogenen Teilen des Bandes (ganz am Ende stehen zusätzlich drei schöne Aufsätze von Hugo von Hofmannsthal, Oskar Loerke und Karl Krolow) ist etwas mühsam und auch ein knappes Register (der ersten Ausgaben, S. 272-274) lässt einen nicht alles zielgenau auffinden. Beim Suchen stößt man jedoch immer auf Überraschungen. Schließlich ist der Divan nicht nur aus west-östlicher Perspektive, sondern auch bei der Liebeslyrik eine wahre Fundgrube.

2013/09/27

European Research Conference – Housing First. What’s Second?

Since 1989, FEANTSA (European Federation of National Organisations working with the Homeless) is working in Brussels as a European non-governmental organization. Recently, the 8th European Research Conference of FEANTSA took place in Berlin. The issue at hand was a North-American program and its usefulness for European situations: »Housing First. What’s Second?«
Housing First. What’s Second? Greece is staying on the agenda – (c) dia-eu

Homelessness in a Europe marked by crisis is an increasing phenomenon. Still, maybe the question is allowed if a program from very different national background is fitting for different European situation. This would be a more fundamental question than the question asked by the conference. Is a program relying heavily on consumer choice and self-determination ideas working for example in a still existing social welfare system as for example in Germany? One of the keynote speakers in the plenary session, Volker Busch-Geertsema, was stressing a positive answer to this basic question anyway, promoting his own research project funded by the Directorate General Employment, Social Affairs and Inclusion of the European Commission. It is called Housing First Europe and provides interesting examples of good-working Housing First Projects (www.housingfirsteurope.eu). Unfortunately, up until now there seems to be only data from Budapest (kind of), Copenhagen, Glasgow and Lisbon. Would the results be equally good if one tries the Housing First approach, say, in Berlin?

One of the issues discussed in detail was the question of evictions due to rent arrears. A comparative analysis of evictions in 14 countries (Austria, Belgium, Czech Republic, Germany, Denmark, Spain, Finland, France, Ireland, The Netherlands, Poland, Portugal Sweden and United Kingdom) made it clear that more research on a European level is needed. The researcher, Susanne Gerull, estimated the number of homeless people in Germany to be comparatively low due to strong legal protection of tenants in the discussion. The question remained how viable those estimations/numbers are as there are different legal systems, different definitions of homelessness and different (national) statistical offices working very differently. Maybe an improvement of this situation would be to include homelessness in the poverty indicators set up by the European Parliament and to have statistics by Eurostat on the question of homelessness European-wide (feantsaresearch.org).

2013/08/26

Nachdenken über die deutsche Dominanz in Europa

Seit dem 1. März 2013 gibt es das Debattenportal europa.deutschlandfunk.de. Es soll die verschiedenen Sendungen des Deutschlandfunks zum Themenkomplex im Netz bündeln. Falls möglich, sollte man in Zukunft vielleicht auch auf die Beiträge des Schwesterprogramms Deutschlandradio Kultur verweisen. Gut gemacht war beispielsweise die Sendung »Der Champion Deutschland« (15. Juli 2013; http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/zeitfragen/2178093/). Ein wenig störend erschien nur, dass Sendungsteile sehr an die viel beachtete Titelgeschichte der Wirtschaftszeitung »The Economist« vom Juni 2013 erinnerten (http://www.economist.com/news/special-report/21579140-germany-now-dominant-country-europe-needs-rethink-way-it-sees-itself-and). Aber das nur nebenbei. Seit dem 19. August 2013 wird auf dem Portal die Frage »Führungsmacht Deutschland?« zur Debatte gestellt. Dabei verfährt man nach dem beliebten Kaleidoskop-Prinzip und zeigt eine polnische, eine französische, eine griechische, eine britische und schließlich eine schweizerische Perspektive. Der französische Blick mit dem Fokus auf die europäische Außen- und Sicherheitspolitik ist in meinen Augen interessant, da er sich in großem Maße auf das »Studienkomitee für deutsch-französische Beziehungen in Paris« stützt.
Was sagt nun der befragte Experte, Hans Stark, zum Thema der deutschen Dominanz und was wäre eventuell zu der von ihm vertretenen Einrichtung zu ergänzen? Leider ist das Telefoninterview nicht im Text auf der Seite wiedergegeben, am eindrücklichsten finde ich die Formulierung:
Deutschland dominiert über seine wirtschaftlichen und finanzpolitischen Trümpfe, während Frankreich bei Weitem nicht mehr in der Lage ist, in der Sicherheits- und in der Verteidigungspolitik die Rolle zu spielen, die es in der Vergangenheit gespielt hat – während des Kalten Kriegs, aber auch noch in den neunziger Jahren.
Der Beitrag verweist bezüglich des Komitees auf die Seite des 50. Jubiläums des Élysée-Vertrags (siehe auch Blog-Beitrag 01/2013; dia-eu.blogspot.com/2013/01), auf der man bereits einiges erfährt: Das Komitee ist im Institut français des relations internationales (IFRI) angesiedelt, es wurde nach einem Regierungsabkommen 1954 eingerichtet.
Das IFRI-Logo im Zeitenlauf – (c) dia-eu
Als Zusatzinformation wäre noch zu ergänzen: Das IFRI wurde 1979 erst vergleichsweise spät aus einer Vorgängerinstitution, dem Centré d’études de politique étrangère (CEPE), nach dem Vorbild US-amerikanischer »think tanks« neu »aufgestellt«, wie man heute sagt. Hans Stark übernahm bereits in den 1990er Jahren die Leitung des Komitees innerhalb der Gesamtstruktur des IFRI, nachdem der langjährige Direktor Walter Schütze in Pension gegangen war.
Der »Zweite Kalte Krieg« und die 1990er Jahre sind sicherlich keine »goldenen Zeitalter«, aber in dem kritischen Nachdenken über die mögliche deutsche Dominanz liegt immer auch eine Wehmut über europapolitisch anders gelagerte Situationen der Vergangenheit. Die Herausforderung ist aber das Jetzt und es verwundert nicht, dass bis zur Bundestagswahl am 22. September 2013 viele Menschen in Europa mit einem unguten Magengefühl auf Deutschland schauen.

2013/07/27

The Shadow of General Charles de Gaulle

The (European) federalists may hope for a European Convention to cope with the multiple situations of crisis the European Union (EU) is facing. On this, I found a good post using my blogroll (http://foederalist.blogspot.de/2013/07/warum-wir-einen-europaischen-konvent.html). The German government seems to be rather satisfied with an approach of »muddling through«, at least for the time being – which has probably a lot to do with the upcoming elections. An important figure which overshadows the European project to this day ist often overlooked: General Charles de Gaulle. Actually, the mythical General of French history (the title of today’s post is almost identical to a well-written book by Sudir Hazareesingh on the topic) influences the intergovernmental bias the European integration has developed over the years. Examples:
  • The European Council, initiated by de Gaulle’s successor Valéry Giscard d’Estaing much in line with the General’s ideas of strong nation states.
  • The tradition according to which some policy fields in the European framework are treated intergovernmentally and oftentimes necessitate unanimous decisions (starting with the »Luxembourg compromise«, continuing with the »pillar structure« of the Maastricht treaty and still going strong with the European Stability Mechanism (ESM) as an independently signed treaty).
  • Different political groups supporting euro-scepticism almost allover Europe which claim de Gaulle as a symbol from time to time and a problemtaic relationship with the Southern Mediterranean or »l’Afrique du nord« (the photograph of 2008 shows a memorial in the 6th arrondissement, which sidesteps the term »Franco-Algerian War« for the 1950’s and 1960’s).
Memorial, 6th arrondissement, Paris – HOMMAGE AUX HABITANTS/DU 6e ARRONDISSEMENT/MORTS POUR LA FRANCE/EN AFRIQUE DU NORD/ENTRE 1952 ET 1962 [...] – EN: HOMAGE TO THE INHABITANTS/OF THE 6th ARRONDISSEMENT/WHO DIED FOR FRANCE/IN NORTH AFRICA/BETWEEN 1952 AND 1962 [...] – 2008 (c) dia-eu
In 2014, there are not only European elections and probably a »bumper crop of euro-skeptics and political radicals« (Paul Taylor for the International Herald Tribune, 2nd April 2013, p. 20) filling the European Parliament (EP). It will also be the 70th anniversary of General de Gaulle’s triumphant victory with his parade on the Champs d’Élysée. Maybe this will also be the time to remind the Europeans of his long shadow.

2013/06/06

Universitas europeana II

System europäischer Graduiertenschulen (c) ELE
Überall im europäischen Hochschulraum sprießen sie wie Pilze aus dem Boden - Graduiertenschulen. Daher möchte ich einige Ideen zu dem Prinzip Graduiertenkolleg, -schule oder wie auch immer man es nennen möchte, schildern. Ein inhaltlicher Pluspunkt der Struktur einer Graduiertenschule ist die Vermittlung von übergreifenden Kompetenzen im Wissenschafts- und Berufsorientierungsbereich. Eine Priorität ist die umfassende Möglichkeit, zusätzliche Stärken der Mitglieder über das inhaltliche Profil hinaus zu entwickeln. Formate können hier von selbst organisierten Arbeitsgruppen über kürzere Informationsveranstaltungen bis hin zu Wochenendworkshops reichen. Themen sind beispielsweise:
  • wissenschaftliches Schreiben und Forschungsprojektgestaltung
  • Publikations-Softwarelösungen und Literaturdatenbanken
  • Berichte aus akademischen und wissenschaftsnahen Berufsfeldern/Perspektivenforum  (möglichst von Ehemaligen)
  • Förderungsprogramme (nicht zuletzt europäische)
  • Zeitmanagement
  • Leseoptimierung
  • Nebentätigkeiten und Doktorarbeitskonzentration
  • Medienarbeit/Öffentlichkeit für das eigene Projekt schaffen
  • Work-Life-Balance
  • Verteidigung und Publikation der eigenen Arbeit

Aufgrund der hierarchischen Unterschiede in den universitären Systemen ist vor allem die Problemlösungsfunktion des Graduiertenschulen-Personals vongroßer Wichtigkeit. Neben der eigenständigen Vertretung der Promovierenden besteht über das Personal für diese Gruppe die Möglichkeit, Herausforderungen wie Arbeitspriorisierung, Betreuungsdefizite oder individuelle Familiensituationen in den Entscheidungsprozess der Graduiertenschulen-Leitung (meist Professorinnen und Professoren) einzuspeisen. Regelmäßige Sprechstunden können zu beispielsweise folgenden Themen angeboten werden:
  • Gender- und Diversity-Fragen
  • Familie und Wissenschaft
  • Arbeitsauslastung und Balance von Nebentätigkeiten und Qualifikationsarbeit
  • Spannungsfeld inhaltliche Beratung/intellektuelle Vorgaben
  • Evaluation-/Antrags- und Berichtsherausforderungen
  • Forschung und Lehre
  • Rückmeldung zum Graduiertenschulen-Personal
 Eine oftmals betonte Funktion des Personals der Graduiertenschulen ist die Verankerung der Institution und der individuellen Mitglieder in der Öffentlichkeit der jeweiligen Universitäten, Regionen und darüber hinaus. In Deutschland kommt zum Beispiel dem Informationsdienst Wissenschaft (www.iwd-online.de) eine wichtige Funktion zu, daneben wird oft eine Adressdatenbank mit gezielten Kontakten für wichtige Themen der jeweiligen Graduiertenschule gepflegt. Beratungsangebote für die Mitglieder können im Bereich Wissenschafts-PR und Öffentlichkeitsarbeit in Hochschule und Forschung zum Beispiel umfassen:
  • Neue Medien und soziale Netzwerke
  • Bildung von Promovierenden-Kooperationen für größeren Medieneffekt
  • Umgang mit Bildern und Grafiken
  • Gespräche im Journalismus- und PR-Bereich
  • Verwissenschaftlichung der Medien – Medialisierung der Wissenschaft
  • Medienstrategien und Mechanismen der Aufmerksamkeit

Vernetzung ist sowohl bei akademischen wie wissenschaftsnahen Karrieren von Doktorandinnen und Doktoranden ein zentraler Faktor. Eine über Graduiertenschulen praktizierte Vernetzung ist jene mit »Gleichrangigen« (Peer Mentoring). Eine Möglichkeit ist ein freiwilliger Stammtisch zum Erfahrungsaustausch aller interessierten Mentoringpaare wird. Eine Besonderheit vieler interfakultären und interdisziplinären Projekte sind die »zweiten Betreuungspersonen«. Darüber hinaus können weitere Mentoring-Programme (beispielsweise der Begabtenförderungswerke oder Wissenschaftseinrichtungen, falls Doktorandinnen und Doktoranden dort gefördert werden) genutzt werden, um eine Weiterbildung auch der erfahrenen Betreuungspersonen/Mentoren zu gewährleisten. Mögliche Erfahrungen und Vernetzungsherausforderungen in diesem Bereich sind zum Beispiel:
  • Erfolgsfaktor Eigeninitiative
  • aktive Kommunikation
  • Herausforderungen und Möglichkeiten im Matchingprozess
  • Auslandsaufenthalte und Kontaktfrequenz
  • Wissen-/Erfahrungstransfer

Im europäischen Hochschulraum haben solche Programme eine strukturierende Funktion, zentral ist hier eine große Flexibilität, die sich einer Grundforderung von Promovierenden zuordnen lässt: Möglichkeiten eröffnen, Freiheit bewahren.